Oktober 2007

Israel: 22. Oktober 2007 bis 4. November 2007 (Bericht von Judith Pühringer)

Das Jewish Welcome Service unterstützt und finanziert unsere Reise nach Israel. Zwei Wochen im Oktober/November werden festgelegt. Ein seltsames Gefühl: Wir wollen in 14 Tagen 13 Personen besuchen, von denen wir nur die Namen kennen, die uns noch nie gesehen haben, um mit ihnen über ihre Lebensgeschichten zu sprechen. Die Zeitpläne und Reisepläne sind fast fertig. Eine Aufgeregtheit macht sich breit, auch eine Vorsicht, ein wiederholtes Nachdenken und Reden darüber, wie wir so etwas überhaupt möglich machen und ermöglichen können, ohne „mit der Tür ins Haus zu fallen“. Die Telefonate sind freundlich, freudig, voller Erwartungen auch von der anderen Seite.

Bevor wir abreisen kontaktierten wir ESRA. Das psychosoziale Zentrum ESRA ist eine innovative und professionelle Einrichtung, die den Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachkommen umfassende Hilfe anbietet und als psychosoziales Zentrum für die jüdische Bevölkerung Wiens dient. Wir lernen den Leiter von ESRA, Peter Schwarz, kennen, ein Schomer des Hashomer Hazair, der uns von der Zeit des Hashomer in der Storchengasse erzählt. Dr. Vyssoki, den ärztlichen Leiter treffen wir in einer Art Supervision – was könnte uns alles in einer Interviewsituation erwarten? Worin bestehen Traumatisierungen und wie können diese im Laufe eines Lebens überwunden werden? Wie würden wir auf Gefühle wie Hass, Misstrauen und Schuldzuweisungen reagieren? Wie steht es um unsere eigenen Zugänge und Gefühle zum Thema Holocaust? Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass das Projektteam aus NichtjüdInnen besteht?

Unsere Reise wird geplant vom 22. Oktober bis zum 4. November 2007, zwei von uns bleiben länger, um bei einer Child Survivors Conference in Jerusalem teilzunehmen. Eine Kamerafrau, Ursula Henzl, wird uns begleiten.

Montag, 22. Oktober 2007

Wir landen in Tel Aviv. Wir kommen aus dem Herbst und sind wieder im Sommer gelandet. In einem kleinen Appartement in der Stadt schlichten wir Filme, Fotoalben, und Bücher, die wir als Geschenke mitbringen wollen und Mozartkugeln. Eine israelische SIM Karte für das Handy – eine unserer ersten Anschaffungen – wir bestätigen den morgigen Termin mit Chava und Arie Feier. Tel Aviv. Was für eine anziehende, spannende Stadt. Am Meer.

Dienstag, 23. Oktober 2007

Wir treffen Chava und Arie Feier in Givatayim, einem Viertel von Tel Aviv. Wir werden bewirtet mit Kuchen und Reindling und Clementinen. Viele haben uns von der herzlichen Gastfreundlichkeit der Israelis erzählt… Chava und Arie sind gut vorbereitet auf unser Interview, das insgesamt 5 Stunden dauert. Sie zeigen uns viele Fotoalben und Dokumente, Arie hat viele Illustrationen in den Büchern selbst gestaltet und wir staunen über ihre reichen, intensiven Lebensgeschichten und auch über Chava, die eine schwere Erkrankung überwunden hat. Wir hören zum ersten Mal in Israel Erinnerungen an die Herklotzgasse, den 15. Bezirk – in einem akzentfreien, fast wienerischen Deutsch. Die Mütter von Chava und Arie Feier kannten einander – und waren die Gründerinnen des Montessori-Kindergartens in der Herklotzgasse 21.

Baden im Meer. Die Sonne geht wie ein roter Ball unter. Humus und Lammfleisch und tanzende orthodoxe Juden auf der Straße. Nach dem Abendessen gehen wir zurück in unser Apartment – in viele politische Diskussionen vertieft, die uns auf und nach dieser Reise nicht mehr loslassen werden. Es ist sehr aufwühlend diese alten Menschen mit ihren Erinnerungen an Österreich und mit ihren gegenwärtigen Lebensgeschichten in Israel zu treffen. Dieses Land, in dem es kriselt und brodelt und in dem kaum eine politische Lösung oder Einigung in Sicht, denkbar oder gangbar wäre – dieses Land, in das zu fliehen die einzige Möglichkeit war, den Holocaust zu überleben. Zwischen den Baustellen in den Straßen von Tel Aviv tritt man auf feinen, weißen Sand. Wir treffen keine Militärs, keine Soldaten, keine Menschen, die mit MGs bewaffnet in Lokalen sitzen oder tanzen. Das überrascht uns.

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Arie und Chava Feier

Mittwoch, 24. Oktober 2007

Wir besuchen Alisa Waksenbaum, die Cousine von Zwi Preminger, der uns in der Herklotzgasse 21 auf dem Weg nach Haifa gemeinsam mit seiner Frau besucht hat. Alisa Waksenbaum hat in ihrer Wohnung noch Möbel aus Wien, auch einen alten Kerzenleuchter und einen schweren alten Tisch und Sessel. Ihre Schwester Genia Preminger war Vorturnerin im Makkabi Turnverein in der Herklotzgasse und Alisa Waksenbaum zeigt uns viele Fotos der Turnhalle. Sie ist auch in regelmäßigem Kontakt mit Erika Goldschmied aus dem Kindergarten.

Am Nachmittag haben wir noch ein zweites Interview geplant – mit Haja Izhaki, der Tochter des letzten Rabbiners der Storchenschul, Aron Weiss. Wir fahren in einen kleinen Vorort von Tel Aviv und Haja empfängt uns in ihrem Garten mit 4 Katzen. Sie serviert uns Vanillekipferl und irgendwann bringt eine Nachbarin die „Neue Post“ vorbei. „Zur Entspannung lese ich auf Deutsch“ sagt sie uns und lächelt… Auch Haja Izhaki öffnet ihr privates Fotoalbum und zeigt uns Bilder aus der Storchengasse, Bilder ihrer Kindheit und Jugend im Storchentempel und die Geschichte ihrer Flucht. Ihr Sohn illustriert Kinderbächer, die sie uns zeigt. Nach vier Stunden Besuch und Interview merken wir, dass wir sehr erschöpft sind von der Dichte der Tage und der Begegnungen. Als wir schon im Vorzimmer stehen läutet das Telefon – es ist Arie Feier, der Haja Izhaki fragt, wie das Interview gelaufen ist… Es wäre schön, wenn es uns gelingt, am Storchentempel eine bleibende Inschrift für ihren Vater, den Rabbiner anbringen zu können.

Wir fahren nach Old Yaffa, um dort abendzuessen. Diesen Ort finden wir sehr speziell, in einem alten orientalischen Innenhof, neben einer Festgesellschaft, lassen wir den langen Tag ausklingen.

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Kerzenleuchter und Möbel aus Wien – Alisa Waksenbaum
Alisa Waksenbaum, Judith Pühringer, Ursula Henzl
Alisa Waksenbaum, Judith Pühringer, Ursula Henzl
Judith Pühringer, Haja Izchaki
Judith Pühringer, Haja Izchaki

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Anny Götzler wohnt in einer Wohnung an dem Platz, auf dem Yitzhak Rabin am Abend des 4. November 1995 bei einer Veranstaltung unter dem Motto „Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt“ ermordet wurde. Anny Götzler hat eine Freundin eingeladen, Stella Finkelstein. Die beiden Frauen berühren uns sehr und bringen uns mit ihren Lebensgeschichten auch zum Lachen. Wir verbringen fast den ganzen Tag mit den beiden Frauen und lauschen ihren Doppelconferencen.

Am Abend sind wir miteingeladen zur Verabschiedung des alten österreichischen Botschafters in Israel. Es ist sehr ungewöhnlich und fast skurril – gerade angekommen in Tel Aviv – zu Walzerempfängen zu plaudern und Wein aus Grinzing zu trinken. Wir treffen Paulus Manker, der die Aufführung der Alma in Jerusalem vorbereitet. Wir treffen Yael Müller, eine junge Frau aus Wien, die in Tel Aviv lebt und uns von ihren Erfahrungen als Schülerin im Wien der Jetztzeit erzählt und darüber, wie antisemitische Kommentare und Äußerungen heute klingen können. Wir erkennen, wie fein die Grenzen der Kommunikation sein können wenn es um den Holocaust geht, um das Vergessen und Erinnern, um Schuld und um aktuelle Fragen der Exklusion und der Integration. Unsere Tage sind nicht nur erfüllt von intensiven Lebensberichten, sondern auch von sehr politischen Diskussionen untereinander und mit den Menschen, die uns begegnen.

Anny Götzler, Stella Finkelstein, Michael Kofler
Anny Götzler, Stella Finkelstein, Michael Kofler
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Verabschiedung des österreichischen Botschafters in Israel

Freitag, 26. Oktober 2007

Wir verbringen mit Josef Kohn und seiner Frau Bracha einen sehr besonderen Tag im Kibbuz Gan Shmuel, einer der wenigen wirtschaftlich noch recht erfolgreichen Kibbuzim in Israel. Josef Kohn erwartet uns am Parkplatz und führt uns in sein kleines Haus inmitten einer wunderbar grünen und gepflegten Anlage voll mit Blumen und Bäumen, die wir noch nie gesehen haben. Josef Kohn beschert uns tiefe Einblicke in das Leben im Kibbuz – über den Aufbau und die Zeiten des Krieges, die Haganah, die Arbeit und die Prinzipien im Kibbuz. Wir essen gemeinsam in einem großen gemeinschaftlichen Speisesaal und spielen alle im Kopf durch, wie ein Leben im Kibbuz wohl wäre und was es vor rund 60 Jahren bedeutet haben mag. Manches schockiert uns, so zum Beispiel, dass die Kinder nicht unmittelbar bei den „Kleinfamilien“ lebten, sondern gemeinsam betreut wurden, manches zieht uns an – das Gemeinschaftsgefühl, das Kollektiv, die Relativität von individuellem Reichtum.

In den 1970ern geht Josef Kohn als Schaliach (Abgesandter aus Israel) in den Haschomer Hazair, einer zionistischen Jugendbewegung, nach Wien. Zu diesem Zeitpunkt ist der Haschomer in der Storchengasse in der ehemaligen Storchenschul untergebracht. Wir können uns kaum trennen, besichtigen noch die kibbuzeigene Zitrussaftfabrik und das ganze Gelände, die Sportanlagen, die Ställe und zum Schluss den Friedhof, den Josef Kohn selbst gestaltet und entworfen hat. Unregelmäßig behauene Steine für die Opfer des Holocaust, die sie von palästinensischen Freunden bekommen haben… Zum Abschied schneidet Josef Kohn eine riesige Papageienblume ab und überreicht sie uns – „Ich wünsche Euch das Paradies“. Und: „Sagt den Wienern sie sollen anständig bleiben. Oder werden.“

Bei der Rückfahrt fahren wir ans Meer. Menschen stehen am Wasser und lassen Drachen steigen, reden, essen. Muscheln sammeln, die Sonne geht unter…

Georg Traska, Josef Kohn
Georg Traska, Josef Kohn
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Josef und Bracha Kohn

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Judith Pühringer, Michael Kofler, Georg Traska, Ursula Henzl
Judith Pühringer, Michael Kofler, Georg Traska, Ursula Henzl

Samstag, 27. Oktober 2007

Ella Kaufmann empfängt uns mit ihrer Tochter Ruth, ein sehr berührendes Gespräch über die Eindrücke der zweiten und dritten Generation entspinnen sich. Ella Kaufmanns Eltern hatten im 15. Bezirk ein Zuckerlgeschäft und wir unterhalten uns über Weihnachtsstollen und Mannerschnitten. Ruth erzählt viel über das Gesagte und Ungesagte ihrer Eltern und über die Schwierigkeiten in der gemeinsamen Kommunikation über die Vergangenheit und den Holocaust. Bereits öfter hören wir, dass die Enkelgeneration, die dritte Generation unbefangener ist und über ein Schulprojekt namens „Wurzeln/Roots“ offener und direkter zu fragen beginnt. Ruth sagt nach über das Gespräch, dass ihre Mutter Ella vieles in einer Form erzählt hat, wie sie es zuvor noch nicht gehört hat. „You opened my window“.

Ella Kaufmann und auch Josef Kohn erzählen uns, dass sie mit vielen Dingen im Älterwerden und im Alter Frieden gefunden haben, aber dass in vielen Bereichen auch Ärger und Wut über das, was passiert ist noch zunehmen und auch Ärger über das, „was sich nicht mehr auflösen lässt“.

Ruth Yaffee und ihre Mutter Ella Kaufmann
Ruth Yaffee und ihre Mutter Ella Kaufmann
vorne: Ursula Henzl, Georg Traska; hinten: Judith Pühringer, Ruth Yaffee, Ella Kaufmann
vorne: Ursula Henzl, Georg Traska; hinten: Judith Pühringer, Ruth Yaffee, Ella Kaufmann

Sonntag, 28. Oktober 2007

Wir besuchen Kitty Merkel und ihren Lebenspartner Paul Zwicker in einem Altersheim in Kfar Saba. Paul begrüßt uns schon am Gang vor ihrer Wohnungstüre mit einem herzlichen und sehr wienerischen „Habe die Ehre!“. Kitty hat sich per E-mail bei uns gemeldet, das Jewish Welcome Service hat einen Brief an die Bewohner des 15. Bezirks geschickt, die sie in der eigenen Adressdatei führen. Wir haben vorher nicht miteinander telefoniert. Wir sind froh, dass wir einander trotzdem „gefunden haben“ und die Ausmachungen per E-mail ausreichend waren. Beide erzählen uns aus ihrem sehr bewegten Leben. Paul erzählt uns viel von politischen Zusammenhängen während wir am Balkon stehen, von dem aus man direkt auf die palästinensischen Gebiete sieht. Er ist im 10. Bezirk aufgewachsen und war der einzige Jude in seiner Schule, 1939 flüchtet er in einer Gruppe nach Israel. Die Gruppe hat sich jahrelang noch getroffen – von den ungefähr 20 jungen Menschen leben heute noch 8.

Am Abend fahren wir gemeinsam mit Ruth nach Reading zum alten Hafen von Tel Aviv. Am Rückweg von Kfar Saba haben wir zum ersten Mal „die Mauer“, die zwischen den Israelis und den Palästinensern errichtet wurde und sich brutal durch die Landschaft zieht, gesehen. Ruth erzählt uns vom normalen Prozedere: Wenn eine Rakete fliegt, wird die Elektrizität für eine Stunde gekappt… Eine Vorgehensweise, die anscheinend „gut klappt“ und die einzige im Moment gefundene Lösungsmöglichkeit für das Leben nebeneinander ist…

Paul Zwicker und Kitty Merkel
Paul Zwicker und Kitty Merkel
Kitty Merkel, Judith Pühringer
Kitty Merkel, Judith Pühringer

Montag, 29. Oktober 2007

Wir treffen Zwi Nevet, der uns gemeinsam mit seiner Frau Yona und seiner Nichte Daniela Baryosef empfängt. Zwi Nevet lebt in einem kleinen Haus in Raanana in Tel Aviv. Zwi Nevet war eigentlich Polizist und hat später als in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet. Stolz zeigt er uns ein Bild mit öffentlichen Gebäuden und Kindergärten, die in seiner Ära gebaut wurden. Zwi Nevet möchte gerne die österreichische Staatsbürgerschaft für seine Kinder und Enkel beantragen, leider gibt es dafür keine rechtliche Grundlage in Österreich. Wieder entspinnen sich interessante Gespräche zwischen verschiedenen Generationen. Auch Jona, Zwi’s Frau, erzählt uns, dass sie ihn schon öfter gefragt hat nach seiner Vergangenheit und den Wurzeln in Wien – „dann hat er gesagt, wann er geboren ist und dann war stopp und er hat weitererzählt bei der Schule in Israel“. Daniela, eine Schmuckdesignerin in Jerusalem übernimmt auf eine sehr berührende Art und Weise die Position ihres verstorbenen Vaters, Zwi’s Bruder ein und ergänzt so die ganzen Erzählungen…

Zwi Nevet beschreibt auch stark den Aufbau und die Wichtigkeit des Staates Israel vor allem für die geflohenen JüdInnen und Juden: „Es ist unser Staat und das ist das Wichtigste.“ Wir stärken uns mit Fleischlaberln, die uns sehr gastfreundlich und liebevoll angeboten werden…

Noch am gleichen Nachmittag fahren wir weiter zu Erika Goldschmied-Zimmermann nach Hadera. Auch sie empfängt uns gemeinsam mit ihrer Tochter. In ihrer ganzen Wohnung ist Wien sehr präsent – auch ein Bild vom Wohnhaus in der Herklotzgasse, in dem ihre Mutter ein Wollgeschäft hatte, hängt an der Wand. Erika Goldschmied, die in Hadera ein Modegeschäft betreibt, hat ein unglaublich detailliertes Erinnerungsvermögen und schildert uns detailgetreu und eindrücklich das damalige Leben im Grätzel rund um die Herklotzgasse. Auch an den Kindergarten erinnert sie sich noch und ist eine der drei Frauen, die damals gemeinsam in den Kindergarten gegangen sind, die regelmäßig Kontakt haben und telefonieren. Erika zeigt uns ein sehr schönes Fotoalbum, das ihr Vater, ein Fotograf, für sie angelegt hat und auch schon in einer Ausstellung in Tel Aviv gezeigt wurde. Im Nachhinein werden wir sagen, dass Erika Goldschmied-Zimmermann spürbar die stärkste Verbindung nach Wien hat, verbunden auch mit einer großen Traurigkeit… Auf ihrem Kasten in der Küche in Israel steht eine alte Kaffeemühle ihrer Mutter aus der Herklotzgasse.

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Yona Nevet, Ernst Nevet, Daniela Baryosef
Yona Nevet, Ernst Nevet, Daniela Baryosef
Miriam und Erika Goldschmied-Zimmermann, Judith Pühringer
Miriam und Erika Goldschmied-Zimmermann, Judith Pühringer

Dienstag, 30. Oktober 2007

Wir fahren zum ersten Mal in eine andere Stadt Israels – nach Haifa, zu Hilde und Catriel Fuchs. Die Lage von Haifa begeistert uns sofort und wir fahren den steilen Hügel hinauf um von Catriel und seiner Frau in einer besonderen Herzlichkeit empfangen zu werden. Als wir die Tür zu ihrer Wohnung öffnen, hören wir die Klänge des letzten Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker. Die geschmackvolle Einrichtung zeugt von vielen Auslandsjahren in Asien… Catriel ist in einem Waisenhaus in der Goldschlagstraße aufgewachsen und hat ein unglaubliches Talent zu erzählen. Seine Geschichte und auch die Geschichte von Hilde berühren uns sehr. Hilde erzählt uns zum Beispiel, wie sie als kleines Mädchen mit den anderen Freundinnen mitgegangen ist, um sich beim Bund deutscher Mädchen zu melden, um erst dann draufzukommen, dass „ich anscheinend nicht dazugehörte“. Hilde und Catriel sind auf eine besondere Weise mit Wien verbunden – sie erzählen uns von vielen Freundinnen und Freunden, mit denen sie regelmäßig in Kontakt sind. Es gab eine Zeit, in der sie nichts lieber wollten als wieder zurückkommen, Freunde hätten sich schon nach passenden Wohngelegenheiten umgeschaut… Der Kinder und vor allem der Enkelkinder wegen sind sie immer noch da. Und lesen regelmäßig die Wochenendausgaben „Der Presse“.

Am späten Nachmittag besuchen wir Israel Hadar, der in einem Haus mit atemberaubenden Ausblick auf die Berge in Haifa lebt. Israel Hadar ist erkältet, gibt uns dennoch ein sehr interessantes Interview. Israel Hadar ist ein großer Musikkenner und hält viele Vorträge über Musik und auch über Opern unter anderem für AltösterreicherInnen in Israel. Die erste Oper, an die er sich erinnern kann war Hänsel und Gretel, die letzte vor der Flucht nach Israel La Boheme. Das ist auch die erste Oper, in die er bei seiner ersten Rückkehr und Besuch nach Wien 1957 wieder geht. Er hat das gleiche Kindergartenfoto wie Anny Götzler und erinnert sich auch an die Namen der Kindergärtnerinnen Salka und Malka. Er berichtet uns viel von seinen Erinnerungen an den Turnertempel und auch an den Storchentempel, in dem er in einem kleinen Chor gesungen hat.

Am Abend gehen wir noch gemeinsam mit Catriel asiatisch essen, weil Hilde sehr krank ist und uns nicht nach draußen begleiten kann. Wir führen vertraute Gespräche, als ob wir einander schon sehr lange kennen würden… fünf gemeinsame Stunden sind zu wenig Zeit und wiedereinmal haben wir das Gefühl, dass die Geschichten der Menschen viele Bücher füllen würden und müssten…

Hilde und Catriel Fuchs
Hilde und Catriel Fuchs
Blick aus Israel Hadars Haus
Blick aus Israel Hadars Haus
Israel Hadar
Israel Hadar
Michael Kofler, Catriel Fuchs
Michael Kofler, Catriel Fuchs

Mittwoch, 31. Oktober 2007

Wir sind bei Chava Kopelman eingeladen, mit der wir auch schon von Wien aus intensiven telefonischen Kontakt hatten. Chava ist ein wichtiger Knotenpunkt, sie kennt Israel Hadar aus der Armee, sie kennt Erika Goldschmied und Dita Segal. Chava lebt zur Hälfte in Ann Arbour in Michigan und zur Hälfte in Tel Aviv. Wir treffen sie gemeinsam mit ihrer Tochter Shirli, die in einer sehr besonderen, humorvollen Art und Weise die Geschichte ihrer Mutter aus ihren Augen betrachtet, kommentiert. Chava hat selbst mit jüdischen Überlebenden psychotherapeutisch gearbeitet und viele dieser Gespräche auch mit Kamera aufgezeichnet. Sie erzählt uns vielen aus diesen Erfahrungen und über die Traumata und ihre Bearbeitung und Aufarbeitung aus therapeutischer Sicht. Es überrascht uns zu hören, dass Chava selbst sich lange nicht als „Überlebende“ gesehen hat, weil sie selbst nicht in einem Konzentrationslager war. Erst durch Gespräche mit ihrer Tochter und Bearbeitung der eigenen Vergangenheit konnte sie diesen Aspekt ihrer Vergangenheit erkennen und anerkennen. Chava Kopelmans Erzählung berührt uns besonders dadurch, dass sie in einer unnachahmlichen Art und Weise die Geschehnisse aus einer Kinderperspektive schildert. Sie war es auch, die in der Botschaft in Israel das Kindergartenfoto aufgehängt hat und so den Kontakt zu Erika Goldschmied-Zimmermann und Dita Segal herstellen konnte. Berührend schildert sie das erste Treffen der drei und sagt „Wir haben uns stundenlang erinnert an das, woran wir uns nicht mehr erinnern können.“ Außerdem sehen wir Fotos vom ersten Besuch der Herklotzgasse 21 gemeinsam mit ihrer Familie, am Handy Erika in Israel, die ihr erklärt was wo war und woran sie sich erinnert.

Gemeinsam lassen wir die intensiven Stunden in Ramat Ha’Sharon ausklingen, darüber sinnierend, welche Begriffe aus der deutschen Sprache auch ins Hebräische und ins Alltagsleben in Israel eingeflossen sind…

Am Abend sind wir bei Moshe Hans Jahoda und seiner Familie eingeladen, der in vielen Dingen der Ausgangspunkt für unser Projekt war. Durch das teilweise sehr schwierige Auffinden von Orten und Straßen verspäten wir uns und sehen seinen ältesten Sohn nur sehr kurz. Seine Frau und zwei seiner Enkel sind da. Auch hier wieder ist es besonders berührend, mit der dritten Generation zu reden, ihre unterschiedlichen Zugänge zur Vergangenheit ihrer Großeltern. Der eine ist Verleger für Bücher von Erinnerungen von Holocaust Überlebenden, der andere ist in der Telekommunikationsbranche und steht für den Typ eines modernen, jungen Israeli, der erfolgreich in einem multikulturellen Israel zuhause ist. Was ihnen allen gemeinsam ist: ein sehr schöner, sehr großer Stolz, wenn sie über ihren Großvater sprechen. Moshe Hans Jahoda redet auch über aktuelle Politik mit uns – über die atomare Bedrohung durch den Iran und über die wichtige Funktion und Rolle des Staates Israel. Er erzählt uns auch von den Vorwürfen seines Sohnes, dass er nicht über alles in seiner Vergangenheit gesprochen hat, und sagt uns „er hat recht“. Moshe Hans Jahoda, der in der Geibelgasse aufgewachsen ist, in der Herklotzgasse 21 in den Kindergarten gegangen ist, dessen Großvater Vorsteher des Turnertempels war, der mit einem Kindertransport nach Palästina geflohen ist und seine gesamte Familie im Konzentrationslager verloren hat, leitet die Claims Conference Österreich in einem Büro in Wien und hat die Herklotzgasse 21 nie wieder betreten. An diesem Abend sagt er uns zu, in die Herklotzgasse 21 zu kommen und uns dort ein Interview zu geben.

An diesem Abend habe ich das starke Gefühl der Überwältigung der Erzählungen und Begegnungen der letzten Tage: diese Reise wird mein Leben, meinen Blick auf die Dinge verändern. Viele politische Einstellungen muss ich schärfen, neu denken, ich möchte klar Position und Haltung beziehen. Das ist nur unendlich schwer…

Chava Kopelman
Chava Kopelman
Das Team
Das Team
Moshe Jahoda, seine Frau und zwei seiner Enkelkinder
Moshe Jahoda, seine Frau und zwei seiner Enkelkinder

Donnerstag, 1. November 2007

Jacov Stiassny lädt uns schon in Wien in den Klub der Alt-ÖsterreicherInnen in Tel Aviv ein, um unser Projekt vorzustellen und auch um einige der Personen, die wir kennengelernt haben, zusammenzubringen. Jacov Stiassny begrüßt uns, Gideon Eckhaus spricht einleitende Worte und Arad Benkö, der Kulturattachee, begrüßt unser Projekt ebenfalls. Wir stellen das Projekt vor und unsere Pläne und versuchen, die besonderen letzten zehn Tage zu beschreiben… Für uns ist es ein sehr besonderer Moment, viele der Überlebenden aus dem 15. Bezirk zu sehen, es ist seltsam, manche haben wir vor ein paar Tagen zum ersten Mal kennengelernt und doch habe ich den Eindruck, gute Freunde endlich wiederzusehen. Sehr berührende Szenen spielen sich ab: manche stehen auf und fragen nach, ob bestimmte Personen da sind, Haja Izhakis Bruder ist da, wir treffen Dita Segal, die in den Kindergarten gegangen ist und die wir von Wien aus telefonisch nicht erreichen konnten. Wir treffen auch Schula Kühn, die Schwester von Betty Beckermann, die ein Fotoalbum mit Bildern aus dem Turnverein mitgebracht hat. Viele haben ihre Fotos mit, die gemeinsam angeschaut werden, gemeinsam wird erinnert. Wir hatten alle möglichen Pläne des Filmens und der Aufnahme… wir merken, dass das alles in der geplanten Art und Weise nicht funktionieren wird und versuchen einfach zuzuhören, zu staunen, uns zu freuen. Wir möchten sehr gerne mit Dita Segal ein Interview machen, morgen müssen wir weiter nach Jerusalem. Dita feiert am Samstag den 50. Geburtstag ihrer Tochter. Am Abend ruft sie uns an, um uns zu sagen, dass sie den Geburtstag „absagt“. Wir dürfen kommen.

Am Nachmittag fahren zwei von uns zu Chava Kopelman um gemeinsam Eddy Zuckerkandel zu besuchen. Chava ist in Kontakt mit ihm, Eddy kann sich kaum an die Zeit in Wien erinnern, dennoch führen wir ein sehr berührendes Gespräch mit ihm.

Am Abend ruft uns Anny Götzler am Handy an und fragt: „Wo wart ihr damals, 1938?“

Im Klub der Alt-ÖsterreicherInnen: Chava Kopelman, Erika Goldschmied-Zimmermann, Dita Segal, Schula Kühn, Arie Feier, Haja Izhaki, Anny Götzler
Im Klub der Alt-ÖsterreicherInnen: Chava Kopelman, Erika Goldschmied-Zimmermann, Dita Segal, Schula Kühn, Arie Feier, Haja Izhaki, Anny Götzler
Chava Kopelman, Erika Goldschmied-Zimmermann, Dita Segal
Chava Kopelman, Erika Goldschmied-Zimmermann, Dita Segal

Freitag, 2. November 2007

Wir brechen unsere Zelte in Tel Aviv ab und fahren mit dem Auto weiter nach Jerusalem. Ungefähr um vier Uhr nachmittags erreichen wir die legendäre, umkämpfte, vielbeschriebene Stadt. Im wunderschönen österreichischen Hospiz, das vollkommene Ruhe und Stille ausstrahlt, stolpern wir auf die Straßen der Altstadt, um sofort in eine extrem aufwühlende Atmosphäre einzutauchen: Es ist Freitagabend, der Muezzin ruft zum Freitagsgebet, orthodoxe Juden hasten zur Klagemauer, eine Gruppe von Katholiken mit einem großen Holzkreuz biegt um die Ecke und kniet alle paar Meter auf den heiligen Steinen am Boden… es ist kaum auszuhalten, diese Mischung an Religionen, an Riten, zum Teil auch an offen gespürter Verachtung für die Religion des anderen… Wir reihen uns mit den orthodoxen Juden und Jüdinnen ein, um die Klagemauer zu sehen. Ein sehr beeindruckendes Szenario, gerade an einem Freitagabend. Irritierend ist, dass orthodoxe Juden ihre Augen bedecken, wenn eine Frau (die anscheinend sofort als Nichtjüdin identifiziert wird) an ihnen vorbeigeht. Die Radikalität und den Fanatismus der großen Religionen habe ich bisher noch selten so intensiv gespürt wie in Jerusalem. Gleichzeitig ist Jerusalem eine atemberaubend schöne Stadt. Vom Dach des österreichischen Hospiz gibt es einen wunderschönen Blick über die Stadt – ein guter Ort um innezuhalten und den Überblick und das innere Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Bei einem christlichen Wirt im muslimischen Viertel inmitten der Altstadt trinken wir Bier und Mangosaft… wir sind mittlerweile an einem Punkt, wo die Eindrücke und Erlebnisse insgesamt schon zu viel sind. Die vielen unterschiedlichen politischen Standpunkte unterschiedlicher nicht sein können und langsam erahnbar und spürbar wird, warum es so schwer sein muss, in diesem Land Frieden dauerhaft zu leben.

Jerusalem, Altstadt
Jerusalem, Altstadt
Jerusalem, vom Dach des österreichischen Hospiz
Jerusalem, vom Dach des österreichischen Hospiz

Samstag, 3. November 2007

Dieser Teil unserer Reise von Jerusalem nach Tiberias war nicht geplant, für uns grenzt es an ein Wunder, dass wir Dita Segal im Klub der Alt-ÖsterreicherInnen getroffen haben und jetzt auch noch ein Interview mit ihr führen können. Zum ersten Mal sehen wir ein bisschen Landschaft von Israel. Wir fahren bei Jericho und dem toten Meer vorbei, wir sehen die Wüste und in der Ferne das Jordantal. Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl auf dieser Korridorstraße durch das Westjordanland zu fahren… Viele haben uns abgeraten, aber es bleibt für uns die einzige Möglichkeit an diesem noch verbleibenden Tag nach Tiberias zu gelangen. Tiberias selbst liegt am See Genezareth, Dita Segal empfängt uns herzlich in ihrem Haus. Dita ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, oft hatten wir das Gefühl, sie interessiert sich mehr für uns, unsere Lebenswelt, unsere Geschichten, unsere Zugänge zu Sozialpolitik und vielen anderen Dingen mehr. Sie studiert noch und wieder und betreut alte, einsame Menschen in Tiberias. Sie ist eine unglaublich starke Frau. Dita Segal ist die einzige Frau, die uns auch aus ihrer Zeit im Konzentrationslager berichtet. Obwohl sie uns eigentlich kaum Details dieser Zeit erzählt, ahnen wir, was es bedeutet haben muss… Dita Segal ist dennoch nicht verbittert, sie hat ein reiches Leben gelebt und lebt es noch. Andeutungsweise können wir aber erahnen und erzählt sie uns von den Träumen und den Ängsten, die bleiben. Dita hat Wien nie wieder besucht, und wir können das gut verstehen. Wir unterhalten uns über ihre Lieblingsdichterin Mascha Kaleko und über Marlene Dietrich. Wir wissen, dass die Zeit nicht annähernd reichen wird, um die Geschichte ihres Lebens zu hören. Wir streifen nur die wichtigsten Stationen und gehen schon bei Einbruch der Dunkelheit, nach einem koscheren Abendessen reich beschenkt von Dita’s Erzählungen und ihrer Weisheit. Im Dunkeln fahren wir den Weg durch das Westjordanland zurück, fast schweigend.

Dita Segal
Dita Segal

Sonntag, 4. November 2007

Zwei von uns fahren heute von Jerusalem zurück nach Tel Aviv und fliegen nach Wien, zwei andere bleiben in Jerusalem, um gemeinsam mit Chava Kopelman einen Holocaust Child Survivors Kongress zu besuchen.

Wir sind am Ende einer Reise angekommen, die wir alle so noch nicht erlebt haben und kaum noch einmal in dieser Form erleben werden. Die Eindrücke sind vielfältig, sie sind politisch, persönlich, sie haben uns an die Grenzen des Aushaltbaren gebracht, sie haben uns berührt und zum Lachen gebracht. Abseits von allen politischen Einblicken und Implikationen haben wir 13 alte Menschen in einer Art und Weise kennenlernen dürfen, in der sich „Fremde“ normalerweise kaum begegnen. Was uns verbindet, ist das Land, in dem wir geboren wurden und dass wir an den Orten ihrer Kindheit arbeiten. Was uns darüber hinaus nach dieser Reise verbindet sind 13 Beziehungen zu Menschen, die uns offen aus ihren Leben erzählt haben, obwohl wir Fremde sind und aus einem Land kommen, das sie vertrieben und verfolgt hat und ihre Familien umgebracht hat. Was es bedeutet, diese Menschen kennengelernt zu haben, wissen wir noch nicht im Detail, was sicher ist, dass uns diese Reise verändert hat, für Zusammenhänge sensibilisiert hat, die uns vorher noch nicht so klar waren. Und dass sie uns Menschen gezeigt hat, die alle reiche Leben gelebt haben und leben, obwohl sie unvorstellbare Gräuel miterlebt haben, fliehen mussten und von einem Tag auf den anderen ein vollkommen neues Leben beginnen mussten.

Wir sind am Ende einer Reise angekommen, die mehr war als eine Reise. Eine Reise eines Projekts, das so viel mehr ist als ein Projekt…

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