Räume

RäumeDer Raum einer jüdischen Vorstadtgemeinde und ihr Zentrum im 15. Bezirk bilden die konzeptuelle Rahmenbedingung des Projekts. Aus dieser werden alle thematischen Fragestellungen wie auch die Formen der Präsentation entwickeln.

Geschichte eines Raumes

Die jüdische Vorstadtgemeinde „Fünfhaus“ bzw. „Sechshaus“ reicht als religiöse Gemeinde bis 1846 zurück, als jüdischer Siedlungsort einige Jahrzehnte weiter. Sie umfasste den Bereich der heutigen Bezirke XII bis XV. (Ab den 1920er Jahren verselbständigte sich die Organisation der Hietzinger Gemeinde – mit eigener Synagoge und eigenen Vereinsstrukturen.)

Was der 13-jährig aus der Sammelwohnung in der Reindorfgasse geflohene Moshe Hans Jahoda heute als „Dreieck seiner Kindheit“ bezeichnet – bestehend aus Turnertempel, Herklotzgasse 21 und Storchenschul – war der Kernbereich der ausgedehnten Gemeinde. Er bildet das Zentrum unseres Projekts. Insbesondere unsere InterviewpartnerInnen kommen mehrheitlich aus diesem Viertel oder waren auf dieses bezogen.

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Die weitläufige Gemeinde im Westen Wiens zeichnete sich nicht durch eine besondere Dichte der jüdischen Bevölkerung aus. In Fünfhaus waren es 4,5 bis 5% der Gesamtbevölkerung, in den übrigen Regionen weniger – gegenüber einer jüdischen Bevölkerung Wiens von etwa 180.000 Personen oder 8 bis 9,5% der städtischen Gesamtbevölkerung (zwischen 1910 uns 1938). Die Wiener jüdische Bevölkerung lebte über die ganze Stadt verstreut, jedoch sehr unregelmäßig. Die höchste Konzentration bestand in den Bezirken I, II, IX und XX. Um die 10% waren es in den Bezirken VI, VII, VIII (um 1910). Im heutigen X., XI., XII., XIII., XVI., XVII., XXI. und XXII. Bezirk waren es hingegen deutlich weniger als in Fünfhaus.

Warum im allgemeinen Geschichtsbewusstsein die jüdische BewohnerInnenschaft von Fünfhaus kaum existiert, kann also nicht vor allem aus deren Zahl erklärt werden. Es hängt wesentlich mit dem Charakter des Bezirks und der jüdischen Gemeinde, die nicht mit den Clichées vom Wiener Judentum übereinstimmen, zusammen. Die Clichées sehen eine Dominanz von weitgehend assimilierten, wohlhabenden Freischaffenden, Industriellen, und hohen Angestellten einerseits – und von armen, religiösen „Ostjuden“, die sich im II. und XX. Bezirk konzentrierten, andererseits. Auch die philosemitische Vorstellung der überproportional aktiven jüdischen Intellektuellen und KünsterInnen greift in Fünfhaus und Rudolfsheim nicht.

Im Arbeiterbezirk dominierten zwar auch unter den JüdInnen ökonomisch schwächere Familien, aber nicht vorwiegend religiös Orthodoxe, sondern ArbeiterInnen und Kleingewerbetreibende. Sie waren in ihrem Lebenswandel stark akkulturiert, und in Übereinstimmung mit dem proletarischen Umfeld standen viele der Sozialdemokratie nahe. Zugleich waren sie relativ stark zionistisch organisiert, nicht wenige schon vor der Katastrophe des Anschlusses. Diese Tendenzen zeichnen sich in den Interviews mit ehemaligen BewohnerInnen und in statistischen Untersuchungen ab.

Das soziale, politische und kulturelle Profil der jüdischen Bevölkerung dieses Stadtteils ist also insofern besonders interessant, als es weit von den anti- wie philosemitisch unterlegten Clichées entfernt ist. (Unter diesem könnte allenfalls der „jüdische Marxist“ – als paradoxer Gegenpart zum „jüdischen Kapitalisten“ – seinen Gegenstand im 15. Bezirk finden.)

Aktivierung des Raums heute

Der lokal begrenzte Untersuchungsgegenstand erlaubt, zahlreiche Aspekte jüdischer Kultur des frühen 20. Jahrhunderts in Wechselwirkung untereinander und mit ihrer quantitativ weit überwiegenden nicht-jüdischen Umgebung darzustellen.

Ausgehend von der Herklotzgasse 21 als Zentrum reaktivieren „Stationen“ ein räumliches Netz jüdischen Lebens in dem Viertel. Die Stationen werden, entsprechend den ehemaligen Funktionen und Nutzungen von Gebäuden und Orten, verschiedenen soziokulturellen Themen gewidmet.

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Die aktuellen Raumbedingungen der Orte (Haus mit eingemieteten Sozial- und Kulturinstitutionen, ein Wiesengrundstück der Gemeinde, Fassaden von Zinshäusern mit Geschäften und Wohnungen etc.) sollen keineswegs neutralisieren, sondern historisch-kritisch und kreativ mit einbezogen werden.

Hinsichtlich der Recherche führte die lokale Fragestellung dazu, dass sich die Suche nach Überlebenden in ein bestehendes Netz der kollektiven Erinnerung einklinken konnte. Während in Wien das Bewusstsein von der Jüdischen Gemeinde in Fünfhaus weitgehend erloschen ist, verständigen sich die aus diesem Viertel stammenden Israelis in ihrer historischen Erinnerung noch heute über „die Herklotzgasse“ und den Turnertempel als zentrale Orte ihres damaligen Lebens. Zugleich können wir das individuelle Gedächtnis und die aufgezeichneten Interviews im Stadtraum konkret verorten. Indem wir detailliert nach den Orten und Institutionen der lokalen Gemeinde fragen, vermeiden wir die Standard-Narrative über die NS-Zeit, die die individuelle Erinnerung mitunter stark überformen. Warum im allgemeinen Geschichtsbewusstsein die jüdische BewohnerInnenschaft von Fünfhaus kaum existiert, kann also nicht vor allem aus deren Zahl erklärt werden. Es hängt wesentlich mit dem Charakter des Bezirks und der jüdischen Gemeinde, die nicht mit den Clichées vom Wiener Judentum übereinstimmen, zusammen. Die Clichées sehen eine Dominanz von weitgehend assimilierten, wohlhabenden Freischaffenden, Industriellen, und hohen Angestellten einerseits – und von armen, religiösen „Ostjuden“, die sich im II. und XX. Bezirk konzentrierten, andererseits. Auch die philosemitische Vorstellung der überproportional aktiven jüdischen Intellektuellen und KünsterInnen greift in Fünfhaus und Rudolfsheim nicht. Im Arbeiterbezirk dominierten zwar auch unter den JüdInnen ökonomisch schwächere Familien, aber nicht vorwiegend religiös Orthodoxe, sondern ArbeiterInnen und Kleingewerbetreibende. Sie waren in ihrem Lebenswandel stark akkulturiert, und in Übereinstimmung mit dem proletarischen Umfeld standen viele der Sozialdemokratie nahe. Zugleich waren sie relativ stark zionistisch organisiert, nicht wenige schon vor der Katastrophe des Anschlusses. Diese Tendenzen zeichnen sich in den Interviews mit ehemaligen BewohnerInnen und in statistischen Untersuchungen ab. Das soziale, politische und kulturelle Profil der jüdischen Bevölkerung dieses Stadtteils ist also insofern besonders interessant, als es weit von den anti- wie philosemitisch unterlegten Clichées entfernt ist. (Unter diesem könnte allenfalls der „jüdische Marxist“ – als paradoxer Gegenpart zum „jüdischen Kapitalisten“ – seinen Gegenstand im 15. Bezirk finden.)

Lokal und international vernetzte Räume

Der lokale Raum bindet das Projekt jedoch nicht an starre Grenzen. Vielmehr war der materiell fassbare, statische Raum, der die „solide“ Grundlage des Projekts bildet, historisch schon immer auf größere Räume der Migration sowie der persönlichen und kulturellen Kommunikation bezogen. Und er ist es noch heute als Gedächtnisraum.

Entsprechend schließt unsere Arbeit an diese dynamischen Raumvernetzungen an. Wir knüpfen unsere Kontakte mit Überlebenden in einem internationalen Gedächtnisraum, gehen in Forschungsreisen den Migrationsbewegungen nach und erweitern unsere Forschung durch internationale Kooperationen.

Zwei Migrationswegen soll besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden:

Wien-Israel
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Dem Staat Israel und seinen BürgerInnen kommt in dem Projekt eine Hauptrolle zu, weil uns eine durchaus pragmatische Entscheidung nach Israel, und nicht etwa in die USA führte, um Interviews mit Überlebenden zu machen. Aus dieser Entscheidung ergaben sich wiederum weitere Themen für unser Projekt.

Jüdische MigrantInnen-Gruppen, die sich durch ihre sprachliche und nationale Herkunft definierten, fanden in Israel besonders gute Voraussetzungen für den fortgesetzten Zusammenhalt vor: in einem kleinen Land mit überwiegend jüdischer Bevölkerung. In politischen Interessensvertretungen, Kulturvereinen und informellen Kontakten hielten sie die Erinnerung an lokale Gemeinden der Herkunftsländer wach. Daher fanden wir den größeren Teil unserer InterviewpartnerInnen durch Weiterempfehlung innerhalb des Gedächtniskollektivs Israels. Einen kleineren Teil erreichten wir über österreichische Archive (Anlaufstelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Jewish Welcome Service Wien).

Wien-Tschechien/Ungarn
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Der enorme Zuzug in die Residenzstadt und moderne Metropole Wien wurde in der Gründerzeit generell vor allem aus den nördlichen und östlichen Kronländern der Monarchie gespeist.

Mit noch größerer Ausschließlichkeit gilt das für die jüdische Bevölkerung. Denn außer den bekannten „7 Gemeinden“ des Burgenlandes, die lange Zeit zu Ungarn gehört hatten, gab es in den mehrheitlich deutschsprachigen Kerngebieten der Monarchie (dem heutigen Österreich) aufgrund älterer Vertreibungen, vor allem jener von 1669–71, keine jüdischen Land- und Kleinstadtgemeinden, sodass ein Zuzug aus diesem Raum kaum bestand. Dieser kam – über mehrere Generationen hinweg – aus Böhmen und Mähren, Ungarn, dem bis 1918 auch die Slowakei angehörte, und Galizien.

1880, zum Höhepunkt der Einwanderung nach Wien, waren nur 38,5% der Wiener Bevölkerung in Wien geboren, ganze 26,7% in Böhmen und Mähren. Zum selben Zeitpunkt waren nur 30,8% der jüdischen Bevölkerung in Wien geboren, 27,8% kamen aus Ungarn, 22,6% aus Böhmen und Mähren und 10,7% aus Galizien. In der Geschichte der Gemeinde „Sechshaus“ fällt unter anderem die große Zahl der JüdInnen auf, die aus dem damals überwiegend deutschsprachige Nikolsburg (Milulov) kamen.

Nach März 1938 kehrte sich die Richtung der Migration einmal mehr um. 1669–71 waren die Wiener JüdInnen nach Böhmen, Mähren und Ungarn geflohen; ihre Nachkommen wanderten im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu Zehntausenden nach Wien ein; und nun flohen viele WienerInnen aufgrund von Verwandtschaftsbeziehungen und der räumlichen Nähe vorerst in die Tschechoslowakei, wo sie im März 1939 von der NS-Okkupation eingeholt wurden. Die nach Ungarn Geflohenen wurden 1944 von der deutschen Okkupation eingeholt – zu einem Zeitpunkt, als Flucht weitgehend unmöglich war.