Storchenschul

storchenschuleStorchengasse 21: ein orthodoxes Bethaus – und Lokal der linkszionistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair

Das Bethaus in der Storchengasse 21 bildete unter den religiösen Orten des Viertels einen Gegenpart zum Turnertempel. Diesen besuchten vorwiegend JüdInnen, die wenigstens in zweiter Generation in Wien lebten und ein liberales religiöses Klima bevorzugten. Die Storchenschul hingegen wurde vor allem von JüdInnen aus der Slowakei, aus Galizien und Ungarn frequentiert. Die Einwanderer aus diesen Gebieten, die in den westlichen Außenbezirken Wiens lebten, waren nicht unbedingt strikt orthodox in ihrer Lebensführung – mancher hielt sein Geschäft auch am Samstag offen. Doch wollten sie den religiösen Gewohnheiten ihrer Herkunftsländer treu bleiben und fühlten sich einem bestimmten Ritus verbunden.

Zwischen den beiden Orten bestand allerdings kein ausschließender Gegensatz – wie sich aus den Biographien und Erinnerungen unserer InterviewpartnerInnen veranschaulichen lässt. Die Familie von Moshe Hans Jahoda war dem Turnertempel eng verbunden, weil der sehr fromme Großvater dort lange Zeit Tempeldiener gewesen war. Moshe Jahoda selbst sang dort im Kinderchor, doch hinderte das nicht, dass er in der Storchenschul die Talmud-Thora-Schule besuchte. Haja Izhaki, die Tochter von Aron Weiss, seit 1914 Rabbiner der Storchenschul, betont wiederum, dass sich die Wiener Orthodoxie dieser Zeit – wenigstens außerhalb des 2. Bezirks – nicht vor Ihrer Umgebung verschloss. Haja Izhaki hatte in Wien auch nicht-jüdische Freundinnen, ihre Eltern nahmen am kulturellen Leben der Stadt teil, und sie besuchte mit ihnen öffentliche, gemischte Schwimmbäder.

Die Geschichte des orthodoxen Bethauses reicht fast ebenso weit zurück wie jenes des Turnertempels. 1896 wurde der (orthodoxe) Bethausvereins Emunas Awes („Glaube der Väter“) für die westlichen Bezirke in Rudolfsheim gegründet. Derselbe führte seinen Bestand bis in die 1860er Jahre zurück, wofür allerdings jede Dokumentation fehlt. (Mit Sicherheit gab es seit den 1840er Jahren verschiedene orthodoxe Bethäuser im heutigen 15. Bezirk.) Die Storchenschul war im 1. und 2. Stock der Storchengasse 21 eingemietet, wo ab 1924 auch der Unterstützungsverein Gemilah Chesed bestand. 1926 firmierte der Bethausverein als Eigentümer des Hauses und erweiterte im Jahr darauf seinen Raumbedarf durch die Einrichtung einer Talmud-Thora-Schule und eines Sitzungssaales im Erdgeschoß. Der Bethausverein hatte außerdem eine sozialen Aufgaben gewidmete Frauen- und seit 1928 eine Jugendsektion; und Rabbiner Weiss hielt regelmäßig Vorträge. 1930–34 wurde das Bethaus nach den Plänen von Ignaz Reiser zur Synagoge ausgebaut. Einem Teil des Hauses wurde eine neue Fassade vorgeblendet, die den Sakralbau als solchen zur Straße hin auswies. Erdgeschoß und 1. Stock wurden im Inneren komplett umgebaut, und im Hof wurde ein neues Stiegenhaus errichtet. Das über 2 Geschoße reichende Bethaus bot 194 Männern und 135 Frauen Platz.

In der Reichskristallnacht zertrümmerten NS-Mannschaften – angeführt vom Besitzer der benachbarten Musikalienhandlung Marek – die Einrichtung des Bethauses und drangen in Wohnungen ein, wo sie auf den Rabbiner und seine Frau einschlugen und ihr Zerstörungswerk fortsetzten. 1942 wurde das Haus für die Fachschaft der Wiener Zimmermeister „arisiert“ (zwangsverkauft) und umgebaut, doch blieb die ursprüngliche Struktur bis heute in den Grundzügen erhalten. 1951 wurde das Gebäude nach dreijährigem Prozess der Israelitischen Kultusgemeinde restituiert.

Haschomer Hazair

1955–74 wurde das wenig attraktive und von allen jüdischen Einrichtungen der Stadt weit entfernte Haus dem Haschomer Hazair, einer linkszionistischen Jugendbewegung, zu Verfügung gestellt. Von der IKG damals mehr gelitten als geliebt, entwickelte sich der Haschomer Hazair dennoch zu wichtigsten Jugendbewegung der Nachkriegsjahrzehnte. Ein beachtlicher Teil der heute bekannten Intellektuellen und KünstlerInnen jüdischer Herkunft erfuhr im schäbigen Gebäude der ehemaligen Storchenschul einen wesentlichen Teil jüdischer Sozialisation. Der Gebäudeteil des ehemaligen Bethauses ist heute als einer der wenigen jüdischen Sakralbauten Wiens, von dem wenigstens noch Reste erhalten sind, denkmalgeschützt. Das Haus wird gegenwärtig durch eine Wohnungsgenossenschaft renoviert und umgebaut.